Atelier Latent

Inspiration Spaziergangswissenschaft

Die Projekte und Arbeiten von Atelier Latent sind inspiriert von der Spaziergangswissenschaft.
Der Soziologe und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt hat diese in den 1980er Jahren an der Universität Kassel ins Leben gerufen: 

„Wir führen eine neue Wissenschaft ein: die Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft […] Sie gründet auf der These, dass die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann auf Grund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben.“

Mit anderen Worten: Egal welche Stadt wir besuchen oder in welche Landschaft wir reisen – stets bringen wir gewisse Bilder und Vorstellungen über die aufgesuchten Gegenden mit und damit einhergehend oft auch vorgefasste Meinungen oder gar Vorurteile. Dieses mitgebrachte Vorwissen ist eine zwiespältige Erkenntnishilfe – so erkennen wir einerseits doch nur, was wir schon wissen, doch andererseits behindert gerade dies einen offenen und unvoreingenommenen Blick auf die Welt. Die Spaziergangsforschung sucht hier einen Ausweg, beispielsweise indem sie die Aufmerksamkeit auf solche Dinge und Verhältnisse richtet, die an sich sichtbar sind, die aber im Alltag zumeist nicht mehr wahrgenommen werden:

Die Spaziergangswissenschaft beschäftigt sich also mit diesen vorfabrizierten Vorstellungen und mit dem, was von der Wirklichkeit wegfällt, wenn das Gesehene an dieses Bild angepasst wird.“ (Lucius Burckhardt, 1994)

Und dieses Sichtbar-Machen  g e h t   nun eben sehr eindrücklich und zugleich recht einfach zu Fuß. So muss etwa das Gehen nicht erst erklärt werden und entspricht unserer ureigenen körperlichen Geschwindigkeit. Zugleich ist das Gehen bzw. der Spaziergang erstaunlich wandelbar: Ein Überblick über unterschiedliche „Formate in Fortbewegung“ findet sich in dem Band Spaziergangswissenschaft in Praxis.

Tagebauspaziergang in Golda-Nord, 1995

Seit 1995/96 verfolgt Bertram Weisshaar in der Rolle als Spaziergangsforscher die Praxis der Spaziergangswissenschaft außerhalb der Universitäten. Den Anfang markierten öffentliche Spaziergänge durch den für Unbefugte ansonsten unbetretbaren Tagebau Golpa-Nord. Die Versuchsanordnung lautete: Würde es gelingen, das als Landschaftsschaden und „Restloch“ gebrandmarkte Areal als eine Landschaft ganz eigenen Typs zu erschließen? Mehrere tausend Spaziergänger erlebten dieses 680 ha große »Betriebsgelände« als faszinierende Landschaft, bevor diese 1999 durch Flutung zerstört wurde. Die Internationale Bauausstellung Fürst Pückler Land übernahm im Anschluss das Konzept, mittels gestalteter Spaziergänge Landschaft lesbar werden zu lassen. So ist »Tagebau« nicht länger nur eine Kategorie der Umweltwahrnehmung, sondern wird längst auch wahrgenommen als ein eigener Landschafts-Typus. Neben Heide, Moor, Wald und Weide kennen wir nun eben auch Tagebau als Landschaft – als eine Art mitteleuropäische Ersatz-Wüste.
Urbane Landschaften, Verkehrsinfrastrukturen, städtische Ränder und Resträume sind das weitere Untersuchungsfeld der Spaziergangsforschung. Beispielsweise entdeckte Atelier Latent bezeichnenderweise die Autobahnraststätte Avus (Berlin) und deren Nachbarschaften bis zum nahen Kurfürstendamm als Zone für einen Must-Have-Walked-Spaziergang. Und es liegen vermutlich noch viele solche latente Landschaften in unserer Alltagswelt verborgen, die es lustvoll zu entdecken gilt.

Fußgänger-Tor zur Nordkurve und Autobahnraststätte Avus

 

Wer einen umfassenden Einblick in den von Lucius Burckhardt aufgefächerten Gedankenkosmos erhalten möchte, findet dessen Schriften beim Martin Schmitz Verlag, so beispielsweise die Bände Wer plant die Planung? und Warum ist Landschaft schön?. Die von Burckhardt in einem Zeitraum von mehr als 40 Jahren entwickelte „Stadtplanungskritik führt die Leserin, den Leser von heute zu der Frage: Haben wir seit 1970 eigentlich etwas gelernt? Repetieren wir die Fehler immer weiter? Oder haben wir, haben die Planer die Stadt inzwischen als System begriffen, mindestens ein Stück weit, und beginnen, entsprechend anders mit ihr umzugehen? Mit dieser Frage im Hinterkopf wird die Lektüre der »alten« Texte immer spannender.“ (Rudolf Schilling) Selbstredend: Die Problemlagen haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert und werden heute auch anders diskutiert, ebenso haben auch andere Autoren ebenso relevante Schriften veröffentlicht – und dennoch blieben viele von Burckhardts Gedankengänge überraschend zeitlos.

Autofahrerspaziergang, Kassel, 1993 (Foto: B. Weisshaar)