Atelier Latent

Der minimale Eingriff

Arche Calamagrostis, 1995 bis 1997, Tagebau Golpa-Nord

Atelier Latent folgt der Inspiration der Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt: Demnach entsteht die Landschaft erst im Kopf des Betrachters und diese ist insbesondere nicht als etwas fest gefügtes zu verstehen:

Wir haben es also offenbar mit zwei Bewegungen zu tun, was die Sache sehr kompliziert: einerseits mit der Veränderung des konkreten Raumes, wie immer dieser meß- oder darstellbar sei, und andererseits mit der Entwicklung und Veränderung unserer Landschaftswahrnehmung.

Burckhardt, Lucius: „Brache als Kontext” (1998). In: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft: Hg. von Ritter, Markus / Schmitz, Martin, Berlin 2006

Dies eröffnet eine »Strategie des minimalen Eingriffs«, wie sie auch von dem französischen Landschaftsarchitekt Bernhard Lassus formuliert wurde:

„Derzeit bedeutet das Gestalten eines Ortes den Versuch, verschiedene Landschaften, die als arm, zurückgeblieben, unnütz, hässlich oder abgenutzt gelten, mittels gewichtiger äußerlicher Eingriffe durch eine moderne, neomoderne oder Pflanzen-Landschaft zu ersetzen. Oft wissen wir nicht in ausreichendem Maße, was diese Ersetzungen uns vielleicht für immer nehmen, im Verhältnis zu dem, was sie uns bringen. Ist das so indiskutabel? Wir haben uns nicht die Zeit genommen, den Ort, seine Düfte, seine Landschaften, seinen Kontext, seine Schichten zu erkunden oder gar zu erforschen. … Dennoch kann ein ganz sanfter, ja selbst der allerkleinste Eingriff, aus einer Anhäufung von Gegenständen, die bis dato lediglich als Unzusammenhängende gelesene wurden, Landschaften entstehen lassen, und dieser Eingriff würde dem Ort durch die Infragestellung der gewöhnlichen Lesart, eine neue Lesbarkeit geben. Da wir von dem Prinzip ausgehen, dass das Vorhandene nie eine tabula rasa ist, führt unser Ansatz, das Vorhandene wiederzuentdecken, dazu, unsere Eingriffe soweit wie möglich zu begrenzen.“

Lassus, Bernhard: Zwischen Schichtung und Tiefe, 1982

In der Brache des Braunkohlentagebaus Golpa-Nord (nahe Dessau, Sa.-Anh.) konnte diese Strategie experimentell erprobt werden. So bestand beispielsweise der Garten „Arche Calamagrostis“ (1995 von Bertram Weisshaar angelegt und bis 1997 weiterverfolgt; Foto oben) ausschließlich aus der vorgefundenen Vegetation. Allein durch das Markieren einer lesbaren Form und durch Harken war ein offener Garten entstanden, dessen Umgebung wichtiger Bestandteil des Gartenbildes war. Dieser transitorische Garten verdeutlichte die durch natürliche Sukzession und Erosionsprozesse entstandenen Besonderheiten dieser Landschaft. Er gab eine Lesehilfe, diente vergleichbar einem Notenschlüssel als Chiffre, mit Hilfe dessen dieses „Dreckloch“ als Landschaft lesbar wurde.
Im Zeitraum 1995-99 konnte Bertram Weisshaar unterstützt durch die Stiftung Bauhaus Dessau (Projekt Industrielles Gartenreich) im Tagebau Golda-Nord gestaltete Tagebauspaziergänge durchführen. Etwa sechstausend Menschen folgten diesen Expeditionen durch das ansonsten unzugängliche Terrain und erlebten das „Bergbau-Betriebsgelände“ als „Landschaft“.
Diese Spaziergänge sind dokumentiert in einem Film von Edda Müller und Kerstin Hoppenhaus – heute ein wertolles Zeitdokument einer verschwundenen Landschaft:

Die Entdeckung der Zwischenzeit / Spaziergangsforscher im Tagebau 

Im Zentrum der Strategie des minimalen Eingriffs steht das genaue Hinschauen und das Verstehenwollen – die „erfinderische Analyse“. Diese am Beispiel der Landschaftswahrnehmung beschriebene Strategie lässt sich ebenso auch übertragen auf Stadtquartiere und Nachbarschaften. Spaziergänge, wie sie von Atelier Latent gestaltet werden, folgen diesem Ansatz. Diese Walks versuchen, ergänzende, vielschichtige Sichtweisen auf die Umgebung zu eröffnen, um darüber die vermeintlich bekannte Welt vielleicht auch noch einmal ein Stück weit neu zu entdecken.

Der wandernde Garten, 1995 bis 1998, Tagebau Golpa-Nord

Der schwimmende Garten, 1996 bis 1999, Tagebau Golpa-Nord