Wenn die Kohle alle ist…
Im Mai 1994 unternahm ich die hier dokumentierte fünftägige Wanderung durch das Braunkohlerevier südlich von Leipzig. Viele der damals aufgesuchten Orte sind zwischenzeitlich verschwunden oder aber grundlegend verändert. Wozu also sich mit dieser „alten Geschichte“ befassen? Zunächst einmal zeigt sie Bilder einer besonderen, jedoch bereits vergangen Landschaft, die auf den ersten Blick nicht als inmitten von Deutschland anmutet. Die zu erkennende Ästhetik gibt Hinweise für den anstehenden Kohleausstieg.
Zum zweiten zeigt sich etwas noch wesentlicheres: Bei einer derartigen Wanderreise wird die Welt unmittelbar und differenziert beobachtet sowie auch sinnlich erfahren. Dieses „mit den Füßen angelesene Wissen“ unterschied sich dabei deutlich von den Nachrichten, Medien- und Fachberichten, die seinerzeit für das hier gezeigte nur die Metapher Mondlandschaft kannten – nicht in einem Sinne, dass die damaligen Darstellungen in der Presse direkt falsch oder gar absichtsvoll gelogen waren, die verbreitete Darstellung war schlicht gravierend unvollständig. Diese erfahrene Differenz zwischen vermittelter und selbst erlebter Welt unterstreicht die Bedeutung der eigenen Beobachtung als Methode zum Verständnis der Welt – allerdings nicht falsch verstanden als eigensinnige, isolierte Weltsicht, sondern als wichtige Ergänzung zu den (seriösen) Nachrichten und wissenschaftlichen Fakten.
Die Wanderung unternahm ich seinerzeit im Kontext des studentischen Projekts „Wenn die Kohle alle ist…“. Die Texte schrieb ich teils unterwegs, teils kurz nach der Rückkehr und sind hier der damaligen Fassung wiedergegeben. Heute würde ich manche Themen anders gewichten, so etwa den Aspekt der Risiken, die seinerzeit jedoch stärker in der öffentlichen Diskussion standen als heute. Die Fotos entstanden ebenfalls während der Wanderung.
Eine Wanderung südlich von Leipzig
zur Entdeckung einer Landschaft
Der Aufbruch
Am Nachmittag des 11. Mai 1994 komme ich auf dem Hauptbahnhof Leipzig an. Von hier aus beginne ich meine Wanderung durch die Braunkohlenlandschaft, welche gemeinhin nicht als eine solche wahrgenommen wird.
Ich möchte der Frage nachgehen, von welcher Art diese Landschaft ist und weshalb sie denn zumeist nicht als solche wahrgenommen wird. Mit allen Sinnen will ich diese ungewohnte Landschaft erfahren und mich direkt in sie hineinbegeben. In der direkten Auseinandersetzung über mehrere Tage hinweg suche ich den inneren Gehalt diese Landschaft zu ergründen. Was kann mir diese Landschaft sagen? Werde ich nicht nur eine fremde Landschaft, sondern auch Unbekanntes an mir selbst entdecken?
Meine anfängliche, leicht ironische Distanz sollte sich sehr bald verflüchtigten und die Landschaft die Vorhand gewinnen. Diese beeinflusste den Verlauf meine Wanderung zunehmend stärker als meine im Vorhinein gefassten Pläne.
Der Nordstrand
Die Wahrnehmung
Meine Wanderung wird stark geprägt durch den Reiz des Fremden und des Einzigartigen. Vertraute und eingeschliffene Verhaltensweisen nutzen mir hier wenig. Ich muss neu lernen, auf die Beschaffenheit des Erdbodens zu achten, um nicht auszurutschen oder einzusinken. Ich lerne einzuschätzen, welches Bodenmaterial festen Halt bietet und wie steil eine Böschung sein kann, sodass ich sie noch überwinden kann.
Mit dem Verstand, mit allen Sinnen und mit dem ganzen Körper erlebe ich die durchwanderten Orte. Manche Situationen besitzen zu einem gewissen Grad das Moment des nicht ganz Einschätzbaren, des Überraschenden und des Plötzlichen, – den Charakter des Abenteuers. Dann ist das Zusammenwirken und die Gegenwärtigkeit aller Sinne in einem Moment nötig.
Die Abschätzung der in dieser Landschaft geborgenen Risiken und die Selbsteinschätzung meiner eigenen Kondition wird zu einer permanenten Erfahrung auf meiner Wanderung. Zuweilen schwanke ich zwischen einem Gefühl des mich in Sicherheit Wiegens und der Erwartung den Nicht-Kontrollierbaren. Auch mutmaße ich mancherorts über Sinn und Unsinn meiner Wanderung, während der ich mich immer wieder wissentlich auf Risiken Einasse. Doch dann erinnere ich mich der Gefahren des Alltag (besonders der Verkehrstoten), auf welche wir uns tagtäglich selbstverständlich – aber unbewusst – einlassen. Zweifelsohne ist Autofahren oder auch Skifahren gefährlicher als hier zu wandern.
Während meiner Wanderung gelange ich an eine Stelle, an welcher eine gewaltige Hangrutschung mehrere Gleise in die Tiefe riss. Ganz offensichtlich haben sich die Sicherheitsbehörden-Ingenieure an diesem Ort getäuscht und die Sicherheit falsch definiert. Diese Landschaft hinterfragt mein bisheriges Verständnis von Gefahr und Risiko. Sie verdeutlicht, dass Sicherheit nicht etwa Absolutes, sondern etwas Definiertes ist.
Die erste Nacht
Der besondere Ort
Zugegeben, diese Wanderung ist nicht meine erste Begegnung mit dieser Art Landschaft. Schon in zahlreichen früheren Studien durchwanderte ich solche Landschaften, jedoch stets nur für wenige Stunden. Bei einer meiner letzten Studien benutzte ich mein Zelt als Basiscamp für meine eintägigen Boden- und Vegetationsforschungen. Es erwies sich als sehr hilfreich. Darüber hinaus – und die bewegte mich letztlich, diesen Versuch auf eine fünftägige Wanderung auszudehnen – bereitete mir das Aussuchen eines landschaftlich herausragenden Ortes und das anschließende Aufrichten des Zeltes außergewöhnliche Freude. Die hierüber entstandene landschaftliche Situation versetzte mich in eine derart heitere Stimmung, wie ich sie zuvor nur selten auf Reisen erlebt hatte.
Die allabendliche Suche nach einem sowohl geeigneten als auch reizvollen Lagerplatz wird zu einem Ritual und zu einem wesentlichen Inhalt meiner Wanderung. Mit dem Aufschlagen des Zeltes nehme ich ein Stück dieser Landschaft über einen begrenzten Zeitraum für mich in Besitz. Mit der Wahl des Zeltplatzes reagiere ich auf die jeweils erlebte landschaftliche Situation. Die Lage und Ausrichtung des Zeltes, ebenso wie die Anordnung des Rettungsringes, ist wesentlich. Die landschaftliche Situation wird hierüber verdeutlicht und gesteigert.
Jeder Ort birgt dabei seine eigenen technischen Schwierigkeiten, das Zelt zu stabilisieren. Ich muss mit den jeweils vorgefundenen Bodenverhältnissen zurechtkommen. Auch muss ich das Gelände genau studieren, um einen vor Wind und vor eventuell abfließenden Niederschlägen geschützten Ort zu finden. Die vorgefundenen Bedingungen werden zu mich direkt betreffenden Umständen, auf welche ich reagieren und in welche ich mich einfügen muss. Dies bedeutet eine sehr intensive Landschaftswahrnehmung.
Ein Zelt ist die einfachste Art einer Behausung. Wind und Wetter sind spürbar. Die Erde selbst ist der Schlafplatz. Das Zelt muss sich ganz den landschaftlichen Bedingungen anpassen. Ein Zelt verändert die Landschaft nur vorübergehend, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen.
Das (freie) Zelten ist eine der unmittelbarsten Landschaftserfahrungen.
Die zweite Nacht
Wasser
Als ich zu meiner Wanderung aufbrach, ging ich davon aus, dass ich gelegentlich ein Gewässer finden würde, in welchem ich mich waschen könnte. Tatsächlich stoße ich erst am dritten Tag auf einen See mit augenscheinlich ausreichender Wasserqualität. Insgesamt begegne ich während meiner fünftägigen Wanderung nur zwei Gewässern, in welchen ich mich zu waschen traue. Beinahe schon selbstverständlich komme ich gar nicht auf den Gedanken, trinkbares Wasser in der Landschaft zu suchen. Gekauft und in Flaschen abgefüllt trage ich das notwendige Wasser mit mir.
Wasser tritt hier zumeist nur als H2O zutage – in Form von Rohrleitungen, rot gefärbten Voreltern, dunkelbraunen Flüssen, Aschespülseen oder Absetzbecken. Dabei besitzen diese Erscheinungen durchaus auch ästhetische Qualitäten. Doch angesichts der überall beobachteten Verschmutzung und des erlebten Fehlens an sauberen, natürlichen Gewässern verhindern meine Angst um diese Lebensgrundlage einen ästhetischen Genuss. Nein – diese Bilder lassen eine Zorn in mir wachsen.
Die dritte Nacht
Wildnis
Diese Landschaft grenzt unmittelbar an Siedlungsränder an. Manchmal beträgt der Abstand zwischen der Steilkante und der Bebauung nur 200 bis 300 Meter. Und doch gehen ich zuweilen durch menschenleere, verlassene Gegenden. Nur einmal begegne ich in dieser Landschaft einem Menschen – bezeichnenderweise ein Jäger, der ja bekanntlich den Menschen flieht und die Tiere sucht. Diese Einsamkeit verstärkt den wüstenähnlichen Charakter dieser Landschaft. Hier bin ich ganz auf mich selbst gestellt. Mit meinem Zelt und der Fortbewegungsart des Wanderns fühle ich mich manchmal schon etwas als Nomade. Es gibt auch Bereiche, in welchen sich die Vegetation bereits zu einem fast undurchdringlichen Dickicht entwickelt hat. Ein schmaler, von Tieren ausgetretener Wildpfad bleibt dann der einzig mögliche Weg.
Diese Landschaft wurde von einer hochtechnisierten Zivilisation erzeugt und gerade in ihr kann man eben dieser Zivilisation wieder entfliehen.
Ein Stück Wildnis.
Die vierte Nacht
Entropie
Wenn die Kohle aus der Erde entnommen ist, fehlt ihr Volumen und in der Landschaft bleiben große Löcher übrig. Die Materie der Erde kann jedoch weder mehr noch weniger werden. Die Masse dieser Löcher muss also irgendwie noch vorhanden sein. Die gewaltigen Materiemassen dieser Löcher – die verbrannte Kohle – wurden als Abgase an die Atmosphäre abgegeben. Die über einen jahrtausendelangen Prozess in der Braunkohle gebundene Energie wurde innerhalb weniger Jahrzehnte umgesetzt. Es wird nunmehr erneut Jahrtausende dauern, bis sich die in die Atmosphäre abgegebene Materie der alten Ordnung vergleichbar wieder konzentriert. Und wie lange wird es dauern, bis die in den Wasserkreislauf freigesetzten Mineralien und Grundstoffe wieder in eine für die Menschen gesunde Ordnung eingebunden sind?
Die gewonnene Energie ist stets nur für den Augenblick der Energieumwandlung nutzbar. Der „Gewinn“ lässt sich nicht mit abstrakten Zahlen des Energieumsatzes zählen, sondern zeigt sich darin, was mit der Nutzung der Energie geschaffen wurde.
Die fünfte Nacht
Verbotene Landschaft
Der Zugang zu dieser Landschaft ist zumeist versperrt. Die Betreten-verboten-Schilder werden zu treuen Begleitern meiner Wanderung. Hier, südlich von Leipzig, scheint mir die gesamte Landschaft ein verbotener Ort. Nur in Ausnahmen, in Reservaten und Korridoren ist die Anwesenheit erlaubt. Die Menschen haben sich selbst ihre Landschaft schon beinahe ganz verschlossen.
Begründet wird das Verbot im allgemeinen mit den im Gelände verborgenen Gefahren. Tatsächlich kann dies Gefahrenmoment jedoch meist nur für Abschnitte der abgesperrten Fläche ein Betretungsverbot begründen. Die Gefährlichkeit ist ungleich über die Fläche verteilt. Es gibt gefährliche und gefahrlose Stellen. Auch variiert die Gefahr oftmals mit der Jahreszeit und der Witterung. Manche Orte sind nur dadurch gefährlich, dass die Gefahr für Unkundige nicht erkennbar ist. Manche Flächen sind wegen der darauf stattfindenden Arbeit abgesperrt. Tatsächlich sind auch hier Unterschiede festzustellen. Es gibt Betriebsruhezeiten und viele Flächen währen so zumindest zeitweise begehbar.
Bergbauarbeiter und Landschaftsästhet
Ein verändertes Verständnis über Sicherheit könnte zu einer bedingten Öffnung dieser Landschaft führen. Als Beispiel seien die Alpen erwähnt, die ja auch nicht flächendeckend verboten sind, nur weil es dort bestimmte gefährliche Orte gibt. Kein Mensch kommt auf den Gedanken, wegen der ein- bis zweimonatigen Lawinengefahr die Berge auch für den gesamten Sommer zu sperren.
Die Tagebaulandschaft bietet viel Raum für geführte bzw. angeleitete Wanderungen und für Landschaftserfahrungen von ganz neuer Art. Analog den Bergführern in den Alpen könnte künftig den Erfahrungen der Bergbauarbeiter eine weitere Bedeutung zukommen. Ihr geschulter Blick und ihre Erfahrung könnte die Besucher sicher durch diese Landschaft führen. Allerdings müsste eine von Außen kommende Person, die vom Bergbau keinen Nutzen hatte, an die ästhetisch herausragenden Orte heranführen. Der Bergbauarbeiter ist hierzu viel zu sehr in seiner gewohnten technischen Betrachtung des Geländes gefangen.
Nur ein Fremder kann die Schönheiten entdecken.
Die damalige Ästhetik der „Zwischenlandschaft“ ist heute nur noch an sehr wenigen und eher zufällig überkommenen Stellen zu finden. In der Breite der Gesellschaft wie auch bei entscheidenden Personen und Institutionen wurde seinerzeit diese Ästhetik nicht als eine wertvolle und in die Zukunft zu transferierende wahrgenommen. Bei dem nun anstehenden Ausstieg aus der Braunkohle bietet sich letztmalig die Chance, die Bergbausanierung um einzigartige und authentische Landschaftsbilder zu ergänzen, wie diese kein Landschaftsarchitekt sonst erschaffen könnte.