In der Stadt lebten seinerzeit über 16.000 Einwohner. Vom Marktplatz waren es eben mal zwei Kilometer zu Fuß und man stand bereits mittendrin in dieser Landschaft. Und doch haben sie nur wenige besucht oder gar geliebt, bevor sie dann für immer auf dem Grund des Sees verschwand. Eine selten faszinierende Landschaft – aber kaum wirklich geschaut. Für immer verloren. Geblieben sind Erinnerungen, ungezählte Skizzen, Entwürfe, Pläne – und diese Fotografien. Es lohnt sich, deren Ästhetik noch einmal zu vergegenwärtigen, da vor dem Hintergrund des beschlossenen Kohleausstiegs aktuell an anderen Orten ganz ähnliche Prozesse erneut stattfinden. Ein letztes Mal bietet sich die Gelegenheit, eine wirklich außergewöhnliche (Braunkohle)Landschaft entstehen zu lassen. Epochal die letzte Chance! Ein Moment vergleichbar dem im Jahr 1661, als André Le Nôtre den Auftrag zur Gestaltung der Parkanlagen in Versailles erhielt.
Kohle machen
Die Aufnahmen entstanden 1998 in dem Restloch des Braunkohlentagebaus Goitzsche bei Bitterfeld. Mit dem Aufschluss dieses Tagebaus war 1948 begonnen worden. Ab 1952 bis zur Stilllegung im Jahr 1991wurde Braunkohle gefördert. Insgesamt wurde etwa eine Fläche von 62 km2 überbaggert, wobei sieben Ortschaften (bzw. Ortsteile) devastiert und ca. 3.800 Einwohner umgesiedelt wurden. Ebenfalls wurde für den Tagebaubetrieb der Fluss Mulde auf einer Länge von elf Kilometer verlegt, unter anderem durch den bereits ausgekohlten Tagebau Muldenstein (seither Muldestausee).
Von der Ästhetik, wie sie in den Fotos deutlich wird, ist inzwischen nichts mehr erlebbar. Entstanden ist eine Seenlandschaft, die für viele Besucher ganz nett wirkt – aber eine wirklich besondere, einzigartige Landschaft ist es nicht. Seen gibt es viele. Hier gibt es nun eben einen mehr. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Immerhin gelang es dem Naturschutz an einigen Orten, Fragmente oder auch größere einstige Bergbauflächen als solche zu erhalten (Bergwitz, Wanninchen). Für die Kohlereviere, die sich gegenwärtig auf den Kohleausstieg vorbereiten, sollte dies mehr als nur ein Gedankenanstoß sein.
Gedanken machen
Mit Ende der Kohleförderung im Tagebau Goitzsche begann damals sogleich auch eine kritische Auseinandersetzung mit der geplanten Flutung und der Gestaltung der Bergbaufolgelandschaft. Initiiert durch das Bauhaus Dessau erarbeiteten bereits im Sommersemester 1991 Studierende der Technischen Universität Braunschweig zahlreiche Entwürfe und Reflexionen, angeleitet durch Prof. Hinnerk Wehberg (TU Braunschweig), Rainer Weisbach (Bauhaus Dessau), Dr. Bernhard Korte, Daniel Libeskind, Prof. Dr. Harmen Thies und andere. Die Überschrift lautete Wunden. Die Fragen: Sollen solch riesige Löcher wie das entstandene Tagebaurestloch Goitzsche mittels Pragmatismus und allein bergbautechnischer Überlegungen so schnell als möglich „repariert“ werden? Soll also das (damalige) negative Bild dieser Brache vordergründig „überwundet“ werden? Oder könnte ein solch riesiges Loch nicht auch Anlass zu Faszination, Reflexion und mutiger Planung sein. Es folgten zahlreiche weitere Workshops, Werkstattwochen, Seminare, Projekte, Ausstellungen etc. mit internationaler Beteiligung, nicht nur in Bitterfeld, die sich engagiert der Zukunft sowie der Ästhetik dieser großen Löcher widmeten. Etwas Zentrales gilt es dabei nicht zu verwechseln: Es ging dabei nicht schlicht um die Gestaltung von Seen, nicht um geflutete und mit einem Seespiegel überdeckelte Geschichte, sondern statt dessen um eine Gestaltung, welche die entstandenen (Hohl)Räume und Brachen bereits als eine gewordene, zu transformierende und weiterzubauende Landschaft in Wert setzen wollte, eben dies Entstandene als etwas Einmaliges begriffen. Die Rückschau nach etwa drei Jahrzehnten, was aus diesem sprühenden Ideenreichtum geworden ist, fällt bescheiden aus.
Unsichtbar machen
Die Flutung des Restlochs – dem heutigen Großen Goitschesee und benachbarte Seen – wurde 1998 begonnen und sollte bis 2006 dauern. Bei dem Hochwasser 2002 durchbrach der Fluss Mulde jedoch einen Damm und ergoß sich in den werdenden See: Innerhalb von zwei Tagen stieg der Wasserspiegel um sieben Meter und überflutet teilweise auch die naheliegende Stadt Bitterfeld. Anschließend musste Wasser aus dem See in die Mulde zurückgepumpt werden. Eine Ironie aus der Realität.
Zukunft machen – unverwechselbar!
Mit dem anstehenden Ausstieg aus der Kohle stellen sich ganz ähnliche Fragen erneut an anderen Orten. Geradezu epochal bietet sich bis 2030 zum letztes Mal die Chance, Landschaften mit einer ganz unverwechselbaren und besonderen Ästhetik zu gestalten – nein, zu erfinden – wie dies allein nur mit den riesigen Maschinen und den schier unermesslichen Erdmassen des Braunkohleabbaus möglich ist. Sollte dies zu guter Letzt zum Ende der Kohle-Epoche doch endlich einmal gelingen, so wäre das Ergebnis ein positives kulturelles Vermächtnis an die nachkommenden, vom Klimawandel belasteten Generationen. So etwas wie ein Angebot zur Versöhnung mit der Zukunft. Dies meint mehr als Hochglanzprospekte von Marinas mit Motorbooten und Ferienwohnungsanlagen, auch mehr als für den Naturschutz vorbehaltene Flächen. Zu erbringen ist mit dem Kohleausstieg nicht weniger als ein absehbar weltberühmt werdendes Kulturerbe, das auf Augenhöhe wäre mit den bedeutendsten Parkanlagen, die uns etwa aus der Epoche des Feudalismus überkommen sind – aus Verhältnissen also, über deren Überwindung wir sehr glücklich sind, deren etwas größenwahnsinnigen Parkerfindungen wir aber lieben und gerne bewahren.
(Zuletzt geändert 24.07.2023)