Gehend Stadt entwerfen

Gehend Stadt entwerfen

Schritte zu einer gerechteren Gestaltung des öffentlichen Raums

Wer kennt dies nicht aus eigenem Erleben: Zwei Personen kommen sich auf dem Gehweg entgegen, doch eine muss auf die Fahrbahn ausweichen, da der Gehweg zu schmal oder zugestellt ist. Seit Corona sind wir sensibilisiert bezüglich räumlicher Abstände. Vielen Menschen wurde bewusst, in was für eine «Randfigur» die Zufußgehenden gedrängt werden. Dabei geht es um weit mehr als um verkehrstechnische Belange – diese Bedingungen prägen die Qualität des öffentlichen Raums schlechthin.

Die Art der Fortbewegung prägt die Wahrnehmung

Die Gehwege, Plätze und Freiflächen bilden den wesent­lichen Kern des öffentlichen Raums: Das Bild einer Stadt fügt sich insbesondere aus jenen Eindrücken zusammen, die wir ganz unmittelbar zu Fuß erleben, also aus Perspektiven heraus, die jene Plätze und Wege eröffnen, die für Zufußgehende gestal­tet sind. Zwar erhalten wir auch Eindrücke, wenn wir fahrend unterwegs sind, doch sind diese aus der bloßen Vorbeifahrt erhaschten Sequenzen ein Vielfaches oberflächlicher. Zudem sind mittels Fahrzeugen jeweils nur eingeschränkte Stadtberei­che erreichbar [Titelbild und Abbildungen oben]. Die Fahrt mit der U­-Bahn etwa «erzählt» so gut wie nichts über den durchquerten Raum, ganz ähnlich die Autofahrt über eine beidseitig mit Lärmschutzwänden flankierte Stadtautobahn. Somit bedingt bereits die Art und Weise, wie wir uns überwiegend fortbewegen, unsere Wahrnehmung der Stadt und welches Verständnis wir von dieser haben. «Wer geht, sieht im Durchschnitt anthro­pologisch und kosmisch mehr, als wer fährt», schrieb Johann Gottfried Seume im Jahr 1805.[1] Eine zeitlose Feststellung. Der «Windschutzscheiben­-Spaziergang» im Rahmen des Se­minars Spaziergangswissenschaft (Universität Kassel, 1993) brachte dies anschaulich zum Ausdruck.

Der Windschutzscheiben-Spaziergang im Rahmen des Seminars Spaziergangswissenschaft an der Universität GHK Kassel; 1993.
Der lange Schatten der autogerechten Stadt
Zufußgehende werden an den Rand gedrückt, wie hier in Wiesbaden-Bierstadt – damit auch in den engen Straßen der alten Dorfmitte geparkt werden kann.

Vor etwa einem Jahrhundert wurde damit begonnen, lange schon bestehende Städte für das neue Verkehrssystem Auto umzubauen und diese fortan als autogerechte Stadt weiterzu­bauen. Der ungehinderte (motorisierte) Verkehrsfluss wurde zum Maß aller Dinge. Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur «Unwirtlichkeit unserer Städte», wie sie Alexan­der Mitscherlich 1965 analysierte: Da die Städte «aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. […] Rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit.» [2] Auch wenn die einstige Idealvorstellung längst verblasste, ist das bauliche Erbe der autogerechten Stadt allerorts weiterhin omnipräsent und den Alltag bestimmend. Der nach wie vor unhinterfragte Anspruch auf die «Grüne Welle» für den motorisierten Verkehr etwa bedingt gravierende Konsequenzen für die Straßen­aufteilung. Die erforderlichen zusätzlichen Fahrspuren für abbiegende Fahrzeuge sind zu Lasten der Gehwege erkauft, wodurch letztere in Kreuzungsbereichen besonders eng «ge­staltet» sind. Gerade hier müssten Fußwege aber breiter als üblich sein. Und die geltende Straßenverkehrsordnung drückt der Stadt als «unsichtbares Design» [3] den Stempel auf: «Wo der Fahrzeugverkehr so stark ist, dass Fußgänger die Fahr­bahn nicht sicher überschreiten können, und da, wo Fußgän­ger den Fahrzeugverkehr unzumutbar behindern, sollten die Fußgänger entweder von der Fahrbahn ferngehalten werden oder der Fußgängerquerverkehr muss unter Berücksichtigung zumutbarer Umwege an bestimmten Stellen zusammengefasst werden.» [4] Die «letzte Generation» ist die erste, die sich traut, den Verkehrsfluss merklich zu stoppen – und erntet dafür um­gehend des fahrenden Volkes ungezügelten Zorn.

Es formiert sich Widerstand
Wie sich zur Wehr setzen, wenn Gehwege tagtäglich zugeparkt werden?

Bekanntlich sind Autos nicht eigentliche Fahrzeuge, son­dern müssten «Stehzeuge» genannt werden. Über zwanzig Stun­den täglich stehen diese irgendwo nutzlos herum. Die Statistik belegt für viele Städte einen jährlich wachsenden Pkw­-Bestand, der mehr und mehr Fläche beansprucht. Hinzu kommt ein zwei­tes, gewissermaßen schizophrenes Phänomen: Obwohl Auto­fahrende allerorts über angeblich zu wenige Stellplätze klagen, kaufen sie immer größere Autos. Damit tragen sie selbst dazu bei, dass weniger Parkplätze nutzbar sind. Übersehen wird da­bei gerne, dass in zentrumsnahen Quartieren immer noch viele Menschen ohne Pkw leben. Diese haben nun aber permanent vollgestopfte Straßen und den Lärm des motorisierten Ver­kehrs vor der Nase. Dieser Personenkreis wird unleidlicher. Die Bereitschaft schwindet, das weiter hinzunehmen. Insbeson­dere gegen illegales Gehwegparken formiert sich Widerstand. In Bremen verklagten Anwohner die Straßenverkehrsbehörde wegen ungenügender Durchsetzung der Verkehrssicherheit. Das Oberverwaltungsgericht Bremen gab ihnen 2023 Recht und stellte fest, dass es nicht genügt, «wenn nur ein schmaler Engpass ver­bleibt, den Rollstuhlfahrer oder Personen mit Kinderwagen «mit Mühe und Not» passieren können. Vielmehr muss auch ein Begegnungsverkehr unter ihnen und mit Fußgängern möglich bleiben.» [5] Vom ausstehenden Urteil des Bundesverwaltungs­gerichts in dritter und letzter Instanz erhoffen sich viele Men­schen bundesweite Signalwirkung: In den Nachtstunden und an Wochenenden gleichen manche Straßen einem rechtsfreien Raum, derart werden Gehwege und Kreuzungen zugeparkt. Autofahrende nehmen zwar Rücksicht darauf, dass für sie zu­mindest noch eine Fahrspur in der Straßenmitte frei bleibt. Wie aber Fußgänger:innen und andere vulnerable Verkehrsteilnehmende zurechtkommen, bleibt außerhalb ihrer Wahrnehmung. Der Fachverband Fußverkehr und zahlreiche Organisationen drängen seit Jahren darauf, dass Falschparken stärker geahn­det und generell die Straßenverkehrsordnung konsequenter durchgesetzt wird. Mehr und mehr Stadtbewohner greifen zur Selbsthilfe, bringen Falschparker mittels der App «weg.li» zur Anzeige. Ein bayerisches Verwaltungsgericht hat Anfang des Jahrs 2023 entschieden, dass durchaus legal handelt, wer Fotos von Falschparkern im Rahmen einer Anzeige an die Polizei schickt.

Gerechte Verkehrsplanung auf die Beine und in die Gänge bringen

Damit die skizzierten Konflikte nicht weiter eskalieren, müssen Verkehrsbehörden, Stadtverwaltungen und Kommu­nalpolitik aktiver werden. Mitunter lassen sich bereits mittels kurzfristig realisierbarer Maßnahmen punktuell wichtige Ver­besserungen für die Sicherheit der Zufußgehenden und für die Aufenthaltsqualität erzielen. Darüber hinaus erfordern al­lerdings zahlreiche Themenstellungen eine stadtweite Fußver­kehrsstrategie (Fußverkehrskonzept). Auch wenn sich daraus ableitende Maßnahmen erst mittel-­ bis längerfristig als kon­krete Veränderungen im Straßenraum zeigen, ist für die Fest­legung von Grundsätzen, Leitlinien und Qualitätsstandards für den Fußverkehr eine solche Rahmenplanung von grundlegen­der Bedeutung – auch in Anbetracht der Planungsprozesse beispielsweise für den öffentlichen Verkehr (ÖPNV) oder Rad­verkehr. Die gebotene Gleichbehandlung der Verkehrsarten des Umweltverbundes spiegelt sich bislang noch zu selten in der Struktur von Stadtverwaltungen wider: Um die Belan­ge des Radverkehrs kümmern sich inzwischen in zunehmend mehr Kommunen Radverkehrsbeauftragte, während der Fußgängerverkehr erst selten eine solche Vertretung hat. Deren Rolle sollte es sein, jede Verkehrsplanung explizit aus der Per­spektive der Zufußgehenden zu überprüfen. Der Fußverkehr würde in der integrierten Verkehrsplanung bereits stets mit­ gedacht, lautet gelegentlich ein Gegenargument. Doch wenn dem so wäre, würden die Städte heute anders aussehen. Die Ungleichbehandlung beginnt bereits bei der Grundlagenermitt­lung: Der Kfz­-Verkehr wird regelmässig gezählt und aufwendig analysiert. Die dadurch gewonnenen Daten und Karten (bspw. durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke DTV, in Kfz/24h) dienen anschließend als wesentliche Argumentationsgrund­lage, beispielsweise bei Straßenausbauplanungen. Hingegen existieren für den Fußverkehr nicht selten nur wenige oder auch keinerlei Daten. Nur schon hieraus resultiert eine schwä­chere Position des Fußverkehrs in dem Abstimmungsprozess der gegensätzlichen Ansprüche der einzelnen Verkehrsarten. Abhilfe kann hier ein Fußverkehrs­-Bedeutungsplan leisten, wie er in Leipzig erarbeitet wird. Dieser Plan bewertet und visualisiert die jeweilige Bedeutung der einzelnen Straßen, Wege, Plätze und Freiflächen für Zufußgehende, wozu auch die feingliedrigen Wegenetze in den Grünanlagen zählen.

Ausschnitt aus Fußverkehrs-Bedeutungsplan (links). Darin wird z. B. die starke Nutzung des Wegs parallel (östlich) dem Elsterbecken deutlich. In der Karte rechts zum motorisierten Verkehrsaufkommen (DTV Kfz/24h) ist hingegen dieser Weg gar nicht abgebildet – er fällt daher in der angeblich integrierten Verkehrsplanung leicht aus dem Blick.

Gehend Stadt entwerfen: Spazieren für Planer:innen
Das Verkehrsgeschehen erklärt sich häufig erst vor Ort. Mit BürgerInnen zusammen durchgeführte Fußverkehrs-Checks sind ein praktikabler Einstieg in eine strategische Fußverkehrsförderung.

Wer Fußverkehr verstehen will, kann sich nicht mit dem Blick auf Pläne begnügen, sondern muss das Gehen direkt selbst beobachten – zu Fuß, versteht sich. Diskussionen zum Fußverkehr führt man gewinnbringend unmittelbar auf dem Gehweg, beispielsweise als «Parteiengespräch auf dem Geh­weg» mit Vertretern des Stadtrats. Auch ein Spaziergang mit dem/r Oberbürgermeister/in ist ein geeignetes Instrument, das Thema fußgängerfreundliche Stadt in den Fokus zu rücken. Zur Vorbereitung finden sich aufbereitete Fachinformationen, beispielsweise auf der Website des Fachverbands Fußverkehr FUSS e.V. Der Einstieg in eine kommunale Fußverkehrsför­derung kann mit öffentlichen Fußverkehrs­-Checks erfolgen: Bei einer gemeinsamen Begehung mit Anwohner:innen kann deren lokales Wissen helfen, Mängel im Wegenetz aufzuspü­ren und erste Maßnahmen vorzuschlagen. Dabei wird schnell einsichtig, dass die fußgängerfreundliche Viertelstunden­-Stadt vieler kleiner, über die ganze Stadt verteilter Bausteine bedarf und nicht durch singuläre millionenschwere Großbauprojekte bewerkstelligt werden kann. Nicht zuletzt führen diese Geh­-Checks bei den Beteiligten zu einer deutlichen Sensibilisierung und zu einem besseren Verständnis für die Bedürfnisse der Fußgänger:innen. Sehr wahrscheinlich reift dabei auch die Einsicht, die Johann Gottfried Seume nach seinem «Spazier­gang nach Syrakus» (1802) erhielt, dass «alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge».[6] Wer selbst viele Wege in der Stadt zu Fuß zurücklegt, der weiß dies aus eigener Erfah­rung: Gehen macht glücklicher und die Straßen schöner.

[1] Wagner, Adolph (1835): Johann Gottfried Seume’s Sämmtliche Werke. Leipzig, S. 201.

[2] Mitscherlich, Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt/Main, S. 10.

[3] Vergleiche hierzu: Lucius Burckhardt, Design ist unsichtbar. Hrsg. von Blumenthal, S. und Schmitz, M. Berlin 2012

[4] VwV­StVO zu § 25 Fussgänger; Absatz 3, 2 II.

[5] Pressemitteilung OVG Bremen vom 03.03.2023, zum Urteil vom 13.12.2022 (Az.: 1 LC 64/22)

[6] Wagner, Adolph (1835): Johann Gottfried Seume’s Sämmtliche Werke. Leipzig, S. 201

Dieser Text erschien im August 2023 in der Collage – Zeitschrift für Raumentwicklung; Ausgabe 4/23 zum Thema spazieren